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Die Zaubermurmel

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Thuy Ngan Vu, geboren 1991, studiert im 3. Jahr Deutsch an der Universität Hanoi in Vietnam.

Thuy Ngan Vu, geboren 1991, studiert im 3. Jahr Deutsch an der Universität Hanoi in Vietnam.

Die Kinder gingen dem Rattenfänger wie Schlafwandler nach. Sie gingen bis zum tiefen Wald, wo sich eine große Höhle auf dem Berg befand. Die Höhle stank ganz stark nach Wein.

Die Kinder gingen dem Rattenfänger wie Schlafwandler nach. Sie gingen bis zum tiefen Wald, wo sich eine große Höhle auf dem Berg befand. Die Höhle stank ganz stark nach Wein.

Der Rattenfänger nahm eine Weinflasche und fing an zu trinken. Er schaute voller Hass auf die Kinder. Er sagte: „Ich bin sicher, eure Eltern feiern, weil es keine Rattenplage mehr in der Stadt gibt. Aber ich werde euch in schmutzige Ratten verhexen!“ Er nahm sein kleines, silbernes Pfeifchen und blies darauf. Anstatt zu weinen, machten alle Kinder nur „piep, piep“ wie Ratten. Dann sperrte er sie in einen Käfig.

Während die armen Kinder zu Ratten verhext wurden, war es in Hameln ganz ruhig. Manchmal konnte man jemanden weinen hören. Das war eine ganz schlimme Katastrophe. Die Familie Müller hatte Glück, dass ihre Kinder – der neunjährige Johann und die sechsjährige Johanna – noch in Hameln waren. Mit Fieber hatten sie im Schlaf im Bett gelegen und gar nichts gehört. Obwohl es ihnen besser ging, fanden sie es furchtbar traurig.

Die kleine Johanna klagte: „Ich vermisse Dennis.“
„Johanna, sollen wir sie suchen und sie zurück bringen?“ fragte Johann.
Johanna sprang vor Freude auf und rief: „Ja warum nicht? Wir haben doch keine Angst vor dem bösen Rattenfänger, oder?“
„Leiser, Johanna, wenn du nicht möchtest, dass es Mama hört!“ flüsterte Johann.

Sie wirkten wie Diebe; Johanna konnte aber ihre Erwartung nicht verbergen. Sie füllte alle Taschen mit Süßigkeiten und Johann nahm viele Murmeln mit. Sie gingen zum Osttor.
Plötzlich hörten sie eine fremde Stimme: „Lasst mich euch helfen!“
Johanna stieß einen Schrei aus: „Oh mein Gott, eine Katze!“
„Ja, ich bin eine Katze. Ich habe aber auch einen Namen – Buffy. Außerdem bin ich die erste Katze, die eine Fremdsprache sprechen kann.“ sagte Buffy. „Hört mir zu!“, sprach Buffy weiter. „Ihr könnt nicht wissen, wo die Kinder und der Rattenfänger sind. Ich bringe euch dorthin.“
Johanna und Johann standen regungslos da, aber dann folgten sie der Katze.
Buffy sagte: „Nicht zu fassen, ich hasse diesen blöden Kerl. Er hat alle meine Ratten erledigt. Dennoch werde ich welche fressen.“
Sie gingen solange, bis ihre Füße sehr wehtaten. Endlich waren sie am Ziel.
Buffy sagte: „Gib mir deine Hand, Johann!“
Johann gab Buffy seine Hand.
Buffy spuckte etwas aus, das wie eine Murmel aussah.
„Pfuiii!“ Johann runzelte die Stirn.
„Nimm das, liebes Kind, die Murmel ist nützlich. Wenn ihr irgendwo hinkommen wollt, sagt ihr euer Ziel; jetzt muss ich euch ‚Auf Wiedersehen‘ sagen und ‚Viel Glück‘!“
„Danke, Buffy!“ sagte Johanna erfreut. Johann hörte nicht auf, die Stirn zu runzeln, aber er hielt die Murmel ganz fest.

Inzwischen war der Rattenfänger völlig betrunken. Er sagte zu den Kindern: „Ich bringe euch in ein fernes Land, wo es perfekten Reisschnaps gibt. Ich brauche keine Gulden, einfach nur Schnaps. Wir gehen jetzt zusammen nach Hamburg.“ Er nahm die Tasche, in der alle Kinder der Stadt Hameln als verhexte Ratten waren, und machte sich auf den Weg.
Zwei mutige Kinder folgten ihm unauffällig. Natürlich waren sie auch sehr klug, denn der böse Mann wusste nichts von ihrer Anwesenheit.
Sie gingen und gingen.
Es war das erste Mal, dass Johann und Johanna in Hamburg waren. Es war absolut schwierig, dem bösen Mann in dem überfüllten Hafen zu folgen. Am Hafen gab es viele große Schiffe, sodass Johann dachte, dass alle Leute von Hameln sogar in so einem großen Schiff wohnen könnten. Es regnete.
„Johann, wir haben nicht genug Gulden, um das Ticket zu bezahlen!“, flüsterte Johanna.
„Komm her, Johanna, und überlege gut!“, antwortete Johann.
Sofort schleusten sich die schlauen Kinder in eine französische Kindergruppe ein.
„Lächle ihnen zu, als ob du zu ihrer Gruppe gehörst“, flüsterte Johann.
Der Kontrolleur sagte etwas zur Erzieherin, dann eilten alle Kinder in das Schiff vor ihnen. Es regnete stärker.
„Wir müssen den Rattenfänger sofort suchen!“ sagte Johann.
Der ganz bunt angezogene Mann stand auf dem Deck und sagte zu der Erzieherin: „Ich bin ein Zirkusclown, ich kann die Kinder in Ratten und wieder zurück verhexen. Wissen Sie, viele Leute sind von mir begeistert!“
Die Erzieherin lächelte höflich. Sie dachte, dass er nur eine dumme Lüge erzählt hat, obwohl er die Wahrheit sagte.
Das Schiff lief langsam aus. Es gab einen starken Sturm, nicht nur gewaltige Winde, sondern auch ein riesiges Gewitter. Die Wellen waren sehr hoch, als ob sie das Schiff mit einem Satz verschlucken könnten. Die Seeleute waren nervös und konnten das Schiff nicht mehr unter Kontrolle halten, während alle Gäste außer Johann tief schliefen. Der Rattenfänger lag im Rausch. Neben ihm lag die Tasche, das Pfeifchen trug er immer am Hals.
„Steh auf, Johanna!“, sagte Johann ganz leise. „Hör zu, wir müssen jetzt seine Tasche und das Pfeifchen stehlen, dann kehren wir mit Buffys Murmel nach Hause zurück!“, erklärte er ihr.
Sie schlichen lautlos in das Zimmer vom Rattenfänger, nahmen die Tasche und das Pfeifchen. Dann standen sie auf dem Deck. Johanna trug die Tasche und versuchte sie trocken zu halten, so dass sie nicht nass wurde.
„Ich hoffe, es geht ihnen gut“, sagte Johanna besorgt. „Sie müssen nur in der warmen Tasche schlafen“, sagte er ein bisschen ungeduldig, während er die Murmel von Buffy in seiner Jackentasche suchte.
„Oh ja, ich habe sie gefunden. Jetzt gehen wir nach Hause. Papa wird stolz auf uns sein!“
„Klar, er wird sogar sehr stolz auf uns sein!“
Plötzlich erschien der Rattenfänger hinter Johanna und hielt sie fest: „Warum seid ihr nicht in Ratten verhext worden?“, fragte er verwirrt. „Gib mir das Pfeifchen oder ich werfe deine Schwester ins Wasser!“, drohte er.
Johann musste ihm das Pfeifchen geben. Der Rattenfänger lachte laut auf und schrie: „Adler, wo bist du?“ Bald kam der große Adler. Er sprang auf den Adler und nahm die Tasche und das Pfeifchen mit sich. Er war ganz böse und warf Johanna ins Wasser. Dann flogen der Adler und er davon.
„Wenn ihr noch am Leben seid, sucht mich in Hà Nôi!“, rief er.
„Johann! Hilfe! Bitte, Johann!“ Johanna war ganz panisch. Sie konnte nicht besonders gut schwimmen, schon gar nicht im Meer.
Sofort sprang Johann ins Wasser. Er war ein perfekter Schwimmer, weshalb die Wellen ihm gar nichts antaten. Plötzlich zog ihn etwas ins dunkle Wasser und ließ ihn sich nicht mehr bewegen. „Ein Seeungeheuer, ein riesiger Oktopus!“ Erschreckende Gedanken erschienen ihm im Kopf. „Dummer Oktopus, lass mich los!“, dachte er wütend. Dann tauchte er runter, um gegen das Seeungeheuer zu kämpfen. Doch zum Glück waren es nur Meeresalgen. Er biss die Meeresalgen durch und schwamm so schnell, wie er konnte.
„Keine Angst, Johanna, ich bin hier!“, rief er ihr zu.
Sie klammerte sich an ihren Bruder und versuchte zu atmen. Johann hielt die Murmel fest und schrie ein Wort, das ihm gerade durch den Kopf ging.
„Hà Nôi!“
Sie spürten kein kaltes Wasser mehr, sondern nur warme Sonnenstrahlen.
„Sind wir im Paradies?“ fragte Johanna.
„Ja, und wir leben noch!“ Die beiden Kinder lagen an einem Strand. Die Häuser, die kleinen Wege und die Menschen waren ganz anders als in Hameln. Alle Menschen hatten schwarze Haare, schokoladenbraune Haut und sie waren sehr freundlich.
„Ich glaube, sie sind Verwandte.“ Johanna hatte bereits vergessen, dass sie in Gefahr gewesen war.
„Các câ u tù đâu đến thê?“  (Woher kommt ihr?) Ein Junge stand vor Johann und Johanna und starrte sie an.
Sie benutzten ihre Köpersprache um zu zeigen, dass sie gar nichts verstanden.
„Êtes-vous des Français?“ (Seid ihr Franzosen?) , fragte er weiter. „Seid ihr Deutsche?“, fragte er und runzelte die Stirn.
„Ja! Du kannst ja auch Deutsch sprechen!“, sagten Johann und Johanna sehr erfreut.
„Klar! Mein Opa ist Deutscher, meine Oma ist Französin und meine Mutter ist Vietnamesin. Deshalb kann ich Deutsch, Französisch und Vietnamesisch. Warum seid ihr in Vietnam?“
Sie erzählten ihre Geschichte.
„Also, ihr sucht einen komisch angezogenen Mann mit einer Tasche, in der Ratten sind? Aber jetzt kommt erst mal mit mir. Ich glaube, ihr seid ganz müde. Oh Entschuldigung – ich bin Nam.“
Er hatte Recht. Johanna und Johann wollten nur etwas essen und schlafen. Nams Mutter kochte gut – so gut wie eine Kochchefin im Restaurant. Die beiden deutschen Kinder aßen vietnamesische Spezialitäten: Chả giò (Frühlingsrollen) und Pho (Reisnudelsuppe mit Fleisch). Sie besichtigten die hübsche Stadt Hà Nôi. Sie gaben dem See, an dem sie lag, einen Namen: Hoàn-Kiêm-See.
Nach einigen Tagen wurde Johann jedoch sehr nervös. „Wir kamen nach Vietnam, um unsere Freunde zu suchen und nicht, um Urlaub zu machen!“ klagte er.
„Wir haben keine Spur von ihnen, wir sind nicht sicher, ob sie in i oder einer anderen Stadt oder einem anderen Land sind, es ist sehr schwierig“, sagte Nam.

An diesem Abend besuchte ein Mann Nams Opa. „Ich fülle Hà Nôi mit meinen Ratten, dann beseitige ich die Rattenplage wieder. Ich bekomme 700 Gulden und Sie können 300 Gulden behalten. Sie sind der Herrscher. Deshalb können Sie anordnen, dass das Volk bezahlen muss!“
„Oh mein Gott, das ist der Rattenfänger! Er trägt keinen Clownsanzug mehr!“, sagte Johanna mit großem Erstaunen.
„Leiser, Johanna!“, sagten Nam und Johann gleichzeitig
Sie redeten lang. Danach ging der Rattenfänger wieder.
„Beeilt euch! Wir müssen ihm nachgehen!“, rief Johanna.
Der böse Mann ging und murmelte „Dann mache ich halt alles selbst!. Er hielt auf einer Straße mit viel gedämpftem Licht an: „Nun geht es los, meine Ratten!“, sagte er leise.
„Nein! Lass sie in Ruhe!“ Johanna schrie.
Aber es war zu spät. Er hatte sie bereits entdeckt.
„Aha, ihr lebt noch! Und wer ist der Junge?“, fragte er.
Johanna fing an zu weinen.
„Du brauchst nicht weinen! Du, dein Bruder und der Junge – ihr werdet auch auf der Stelle Ratten sein!“ Mit diesem Satz holte er sein Pfeifchen aus der Jackentasche. So schnell wie möglich trat Johanna ihm in die Hand. Er und Johann kämpften. Johanna schrie laut: „Dennis, Maren … wo seid ihr denn? Wir brauchen eure Hilfe! Bitte!!“
Es war sehr seltsam, dass alle Ratten zurückkamen. Sie rissen sich um den Rattenfänger. Mit scharfen Zähnen bissen sie ihm in die Beine, Ohren und Hände. Er musste Johann loslassen, er lag auf dem Boden und ächzte.
Johann nahm seine Flöte und blies darauf. Alle Ratten wurden wieder normale Kinder. Sie umarmten sich mit großer Freude.
Plötzlich erschien der Adler. Der griff Dennis und flog weg. Johann nahm alle seine Murmeln und warf sie in die Augen des Adlers. Er musste Dennis sofort loslassen. Dennis fiel auf einen großen Turm in der Mitte des Hoàn-Kiêm-Sees. Die Kinder standen am Ufer und wussten nicht, wie sie zu Dennis gelangen sollten.
„Los, geht! Und ertrinkt!“, sagte der Rattenfänger.
Plötzlich erschien eine riesige Schildkröte. Die Kinder kletterten auf deren Rücken und Johann fragte: „Nam, ist das die Schildkröte in der Legende vom Hoàn-Kiêm-See?“
Nam bejahte überrascht.
Und der Rattenfänger fiel in den See und ertrank fast. Er schrie „Ich möchte nicht sterben! Hilfe!!“
Die Kinder waren ganz ruhig. Johanna weinte. Johann sagte zu Nam: „Kommst du mit uns, um unsere Heimat zu besuchen? Danach bringen wir dich auch wieder nach Hause!“. Natürlich war Nam einverstanden. Sie kletterten vom Rücken der Schildkröte.
„Jetzt gehen wir nach Hause.“ Johann nahm Buffys Murmel.
„Hameln.“ sagten alle Kinder.
Und schon waren alle Kinder in Hameln. Ganz klar waren ihre Eltern sehr froh, dass ihre Kinder wieder da waren. Johann und Johanna vergaßen Hà Nôi nie mehr. Und am Ende wurde Nam ihr neuer Freund.

Quelle: DAAD

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